Stellvertreterkriege
Im Februar 2022 marschierten russische Truppen in die Ukraine ein und besetzten große Teile des Lands. In ihrem Kampf gegen diese Invasion wird die Ukraine finanziell und militärisch von den USA und ihren Verbündeten unterstützt. Darum wird der Russisch-Ukrainische Krieg in den Medien, besonders von russischer Seite, auch als ein „Stellvertreterkrieg“ zwischen den USA und Russland bezeichnet. Doch ist diese Bezeichnung in diesem Zusammenhang wirklich angebracht? Um das zu entscheiden, sollte man zunächst die Entstehung und Geschichte des Begriffs „Stellvertreterkrieg“ genauer betrachten.
Der „Kalte Krieg“ zwischen den USA und der Sowjetunion
Der Begriff „Stellvertreterkrieg“ geht zurück auf die Ära des sogenannten „Kalten Kriegs“ zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion von 1946/47 bis 1989, oft auch als Ost-West-Konflikt bezeichnet.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war Europa in zwei politische Einflussgebiete oder Blöcke aufgeteilt worden. In Osteuropa entstand unter dem Einfluss der Sowjetunion der kommunistische Ostblock, der sich militärisch als Warschauer Pakt organisierte. Dem stand im Westen die NATO unter Führung der USA gegenüber.

Beide Seiten versuchten, durch militärische Abschreckung die Gegenseite am Angriff zu hindern und rüsteten deswegen stark auf. Man spricht von einem „kalten“ Krieg, weil Ost wie West trotz aller Spannungen direkte militärische Konflikte vermeiden wollten, um eine mögliche Eskalation zum Atomkrieg zu verhindern. Die Zeit des Kalten Kriegs war geprägt von gegenseitigem Misstrauen und ständigen Versuchen, die eigene Einflusssphäre weltweit zu vergrößern, sowie von einer Rüstungsspirale mit immer mehr und immer stärkeren Waffen. Der Kalte Krieg gilt seit 1991 mit dem offiziellen Zusammenbruch der Sowjetunion als beendet.
Stellvertreterkriege – Definition und Motive
Ein Mittel der beiden Supermächte zur Vergrößerung des eigenen Einflusses war das Führen von sogenannten „Stellvertreterkriegen“ in verschiedenen Regionen der Welt.
Von einem Stellvertreterkrieg spricht man, wenn Großmächte sich in Konflikte zwischen kleineren Staaten oder Bürgerkriegsparteien einmischen, anstatt sich direkt zu bekriegen. Man unterscheidet zwischen direktem Eingreifen durch die Entsendung von Truppen und indirektem Eingreifen durch finanzielle oder logistische Unterstützung der Konfliktparteien.
Motive für Stellvertreterkriege
Stellvertreterkriege werden typischerweise aus einem oder mehreren der folgenden Motive heraus geführt:
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Ideologische Gegensätze: Die kriegführenden Parteien tragen symbolisch den Kampf zwischen im Konflikt stehenden Ideologien aus – im Fall des Ost-West-Konflikts zwischen Kommunismus und Kapitalismus.
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Geopolitische Faktoren: Die Konflikte finden häufig in Regionen mit strategischer Bedeutung statt, also zum Beispiel an den Grenzen der jeweiligen Einflussgebiete oder an Orten, von denen eine militärische Bedrohung ausgehen könnte.
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Wirtschaftliche Erwägungen: Oft geht es in Stellvertreterkriegen auch um die Absicherung wirtschaftlicher Ressourcen wie Öl oder Uran.
Durch den Stellvertreterkrieg erhalten die Großmächte die Möglichkeit, ihre eigenen Interessen zu vertreten und ihren Einfluss zu vergrößern bzw. den der verfeindeten Großmacht einzudämmen, ohne in eine direkte militärische Konfrontation treten zu müssen.
Beispiele für Stellvertreterkriege während des Kalten Kriegs
Der Konflikt zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion wurde weltweit an unzähligen Schauplätzen ausgetragen, an denen sich Kriegsparteien im Namen des ideologischen Konflikts zwischen Kommunismus und Kapitalismus bekämpften. Dazu gehören zum Beispiel der Bürgerkrieg in Angola (1975–2002) oder der Ogadenkrieg in Äthiopien (1977/78). Zudem kam es immer wieder zu Krisensituationen, in denen durch gegenseitige Drohgebärden und Provokationen die Gefahr einer Eskalation zum offenen Krieg bestand.
Die bekanntesten Beispiele für Stellvertreterkriege und Krisensituationen sind in der folgenden Zeitleiste chronologisch aufgeführt:
1950–1953 |
1955–1975 |
1962 |
1978–1989 |
Koreakrieg |
Vietnamkrieg |
Kubakrise |
Afghanistankrieg |
Die Kubakrise war kein Stellvertreterkrieg, aber sie gilt als Höhepunkt des Kalten Kriegs und als der Moment, an dem die USA und die Sowjetunion einer direkten militärischen Konfrontation am nächsten kamen. Auch nach dem Ende des Kalten Kriegs gibt es Konflikte, in die sich eine oder mehrere Großmächte einmischen. Sie können im weiteren Sinn ebenfalls als Stellvertreterkriege bezeichnet werden.
Der Koreakrieg
Ein frühes Beispiel für einen Stellvertreterkrieg ist der Koreakrieg (1950–1953). Korea war nach dem Zweiten Weltkrieg ähnlich wie Deutschland zunächst in verschiedene Besatzungszonen aufgeteilt worden, aus denen ab 1948 zwei separate Staaten entstanden: das kommunistische Nordkorea (Demokratische Volksrepublik Korea) und das westlich orientierte Südkorea (Republik Korea). Im Jahr 1950 griffen nordkoreanische Truppen Südkorea an und nahmen in kurzer Zeit fast den ganzen Süden ein. Auf Basis eines Mandats der Vereinten Nationen übernahmen die USA die Führung über internationale UN-Truppen, die im Gegenzug große Teile des Nordens besetzten. Das führte wiederum zum Eingreifen Chinas und letztlich zu einem Stellungskrieg entlang der ursprünglichen Grenze am 38. Breitengrad. 1953 wurde ein Waffenstillstand geschlossen.
Korea ist bis heute ein geteiltes Land. Keine der beiden Supermächte konnte ihren Einflussbereich vergrößern. Der Koreakrieg erhöhte die Spannungen zwischen Ost und West und spielte so eine maßgebliche Rolle für die schnelle Einbindung der beiden deutschen Staaten BRD und DDR in die NATO beziehungsweise den Warschauer Pakt.
Nord- und Südkorea |
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Der Vietnamkrieg
Der Vietnamkrieg (1955–1975) war der erste Konflikt des Kalten Kriegs, der als Stellvertreterkrieg bezeichnet wurde. Die USA unterstützten den Süden des Lands mit Truppen gegen die nordvietnamesischen kommunistischen Vietcong, die von der Sowjetunion mit Waffen ausgestattet wurden. Die hohe Zahl an amerikanischen Opfern, die Berichte über Kriegsverbrechen und schließlich die Niederlage gegen Nordvietnam führten dazu, dass die amerikanische Öffentlichkeit seither dem Konzept von Stellvertreterkriegen deutlich kritischer gegenüberstand.
Der Krieg in Afghanistan
Zeitlich am Ende des Kalten Kriegs steht der Krieg in Afghanistan (1978–1989). Dort hatte 1978 die kommunistische Volkspartei die Macht übernommen, die jedoch mit viel Widerstand im eigenen Land zu kämpfen hatte, vor allem durch islamistische Gruppen. Im Jahr 1979 marschierten zu ihrer Unterstützung sowjetische Truppen ins Land ein. Die USA griffen nicht direkt ein, unterstützten aber im Geheimen über viele Jahre hinweg die islamischen Mudschaheddin-Widerstandskämpfer durch die Lieferung von Waffen. Die Sowjetunion konnte sich nicht durchsetzen und zog 1989 ihre Truppen ab. Der Versuch, ihre Machtsphäre im Mittleren Osten auszuweiten, war gescheitert. Der Afghanistankrieg begünstigte aber letztlich auch den Aufstieg der radikal-islamischen Taliban, die dort seither die Errichtung eines islamischen Gottesstaats vorantreiben.
Beurteilung von Stellvertreterkriegen
Stellvertreterkriege ermöglichten den Supermächten zwar, ihre Konflikte ohne großes Risiko und mit relativ geringen persönlichen Verlusten auszutragen, in den beteiligten Ländern führten sie aber zu ungeheurem menschlichem Leid, großen wirtschaftlichen Schäden und Millionen von Todesopfern. In vielen Ländern bauten sich auch negative Einstellungen gegenüber der Einmischung von außen auf, die letztlich die Entstehung radikaler Gruppen begünstigten und zu einer politischen Destabilisierung beitrugen, die teilweise noch heute zu spüren ist. Zudem hatte jeder Konflikt grundsätzlich auch das Potenzial, zum offenen Krieg und damit zur atomaren Bedrohung zu eskalieren.
Für die Supermächte selbst brachten die Stellvertreterkriege hohe Kosten für das internationale Wettrüsten mit sich. Gerade in den USA waren sie auch immer schwerer moralisch gegenüber der eigenen Bevölkerung zu vertreten. Generell wird der Führungsanspruch der USA als verbliebener Supermacht inzwischen weltweit immer mehr infrage gestellt.
Ob auch jüngere militärische Konflikte als Stellvertreterkriege charakterisiert werden können und sollten, ist umstritten. Inwiefern die militärische Unterstützung der Ukraine durch westliche Staaten den Angriffskrieg Russlands zu einem Stellvertreterkrieg macht, hängt im Wesentlichen davon ab, wie weit man die Definition des Begriffs fasst. Der Krieg in der Ukraine unterscheidet sich von den oben beschriebenen Konflikten dadurch, dass er durch einen direkten Angriff Russlands, also einer externen Macht, begonnen wurde. Es handelt sich um einen ungleichen Konflikt zur einseitigen Durchsetzung russischer Interessen. Durch die westliche militärische Intervention gewinnt er jedoch in Teilen den Charakter eines Stellvertreterkriegs.
Stellvertreterkriege – Zusammenfassung
- Wenn Großmächte, anstatt sich direkt zu bekämpfen, in Konflikte in oder zwischen anderen Ländern eingreifen, bezeichnet man das als Stellvertreterkrieg. Solche Kriege sind ursprünglich und im engeren Sinn ein Phänomen des Kalten Kriegs zwischen den USA und der Sowjetunion.
- Das Hauptziel von Stellvertreterkriegen ist die Austragung politischer oder ideologischer Differenzen bei gleichzeitiger Vermeidung eines direkten Konflikts zwischen Großmächten. Durch die Ausweitung ihres Einflussbereichs bzw. die Eindämmung des feindlichen Einflussbereichs erhoffen sich beide Seiten wirtschaftliche und strategische Vorteile.
- Als bekannteste Beispiele für Stellvertreterkriege während des Kalten Kriegs können der Koreakrieg, der Vietnamkrieg und der Afghanistankrieg gelten.
- Stellvertreterkriege bringen für die beteiligten Konfliktparteien viele negative Folgen mit sich. Neben den üblichen Kriegsfolgen gehört dazu auch oft eine politische Destabilisierung mit langfristigen Folgen.
Häufig gestellte Fragen zum Thema Stellvertreterkriege